Immer mehr Actros und Arocs sind mit MirrorCam ausgestattet. Das System hilft, Kraftstoff zu sparen und die Sicherheit zu verbessern. Doch wie bei den meisten Innovationen ist eine gewisse Eingewöhnung nötig. „Transport“ hat mit Experten die wichtigsten Fragen und Antworten zusammengetragen.
Digitale Helfer.
Auf den Straßen zeigen sich immer mehr Actros und Arocs ohne die typischen großen Außenspiegel. Stattdessen sind am Dachrahmen kleine, stromlinienförmige Kameraarme verbaut. Seit Juni 2019 liefert Mercedes-Benz seine schweren Lkw mit der MirrorCam aus – bislang weltweit als erster und einziger Hersteller in der Branche. In den meisten europäischen Märkten hat der Actros mit L-Fahrerhaus die MirrorCam sogar serienmäßig an Bord.
Die digitalen Rückspiegel sehen nicht nur futuristisch aus, sie senken dank ihrer aerodynamischen Vorteile auch den Verbrauch um bis zu 1,3 Prozent. Mindestens ebenso wichtig: Das System kann in puncto Sicherheit einiges mehr als die herkömmlichen Haupt- und Weitwinkelspiegel. Die Leistungen der MirrorCam gehen weit über die gesetzlichen Vorgaben hinaus.
„Überholen, Rangieren, Fahren bei schlechter Sicht und in Kurven – das alles ist jetzt sicherer und stressfreier zu bewältigen.“
Patrick Hirth ist Mechaniker in der Fahrerhausentwicklung bei der Daimler Truck AG und mehr als 200.000 Kilometer mit der MirrorCam gefahren. Sein Kommentar: „Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase erlebt der Fahrer die Vorteile der MirrorCam in vielen unterschiedlichen Situationen hautnah. Überholen, Rangieren, Fahren bei schlechter Sicht und in Kurven – das alles ist jetzt sicherer und stressfreier zu bewältigen.“
Zur MirrorCam gehört je eine links und rechts am Dachrahmen befestigte und zum Schutz vor Beschädigungen mechanisch nach vorn und hinten klappbare Kamera. Außerdem zwei hochformatige, im Fahrerhaus an den A-Säulen befestigte Monitore sowie Bedienelemente im Türmodul und im Multi-Touch-Display. Außerdem gibt es auf der Beifahrerseite und optional am Bett je eine Taste zum Einschalten der MirrorCam bei ausgeschaltetem Motor. Die Bilder der Kameras werden mit einer Auflösung von 720×1.920 Pixel auf die zwei 15,2 Zoll großen Monitore übertragen. Analog zum herkömmlichen Spiegelsystem ist das Monitorbild in Haupt- und Weitwinkelbereich gegliedert.
Freie Sicht durch die Seitenscheiben.
„Da Kameras der MirrorCam am Dachrahmen befestigt sind und sich die Monitore im Inneren des Fahrerhauses befinden, hat der Fahrer eine erheblich verbesserte direkte Sicht durch die Seitenscheiben“, erklärt Dirk Stranz, Entwicklungsingenieur bei der Daimler AG. „Der Blick schräg nach vorn ist frei, wo die großen Außenspiegel dem Fahrer bisher in vielen Situationen die Sicht genommen haben. Das ist besonders beim Heranfahren an Kreuzungen und Kreisverkehren, beim Rangieren und in engen Kurven von Vorteil.“
Beim Rückwärtsrangieren unterstützt die MirrorCam den Fahrer ebenfalls: Das Displaybild wechselt dann in eine spezielle Rangieransicht. Kurvenfahrten rückwärts fallen damit leichter, weil auch weiter entfernte Bereiche im Fahrzeugumfeld größengleich dargestellt werden. Die Rangieransicht wird automatisch beim Einlegen des Rückwärtsgangs aktiviert und bleibt dann auch beim Vorwärtsfahren bis zehn Kilometer pro Stunde oder bis zur Deaktivierung per Knopfdruck.
„Auch die Distanzlinien im Display der MirrorCam sind eine sinnvolle Unterstützung“, findet Dirk Stranz. „Sie helfen dem Fahrer, Abstände zu Objekten hinter dem eigenen Fahrzeug der Fahrsituation angemessen besser einzuschätzen. Beim Überholen zeigen die roten, orangefarbenen und gelben Markierungen im rechten Display der MirrorCam an, ob der Lkw bereits sicher auf die rechte Spur zurückkehren kann oder ob noch ein paar Meter zum nötigen Sicherheitsabstand fehlen.“
Wichtig ist dabei allerdings, dass der Fahrer vor dem Losfahren über das Türbedienfeld die einstellbare Abstandslinie so platziert, dass sie ihm das Ende des eigenen Fahrzeugs im Bild exakt anzeigt. „Ich lege dafür wegen ihrer guten Sichtbarkeit vor Fahrtbeginn immer meine Warnweste auf den Boden neben das Trailer-Ende und richte die Linie dann daran aus“, erläutert Testfahrer Hirth. Praktisch: Wenn der Trailer gewechselt wurde, warnt das System den Fahrer vor Fahrtbeginn durch Blinken der Linie. So kann der Fahrer checken, ob sich mit dem Wechsel des Trailers auch die Länge des Zuges verändert hat.
Kamera schwenkt in der Kurve mit.
Ein besonderes Highlight der MirrorCam kommt bei Kurvenfahrten mit dem Sattelzug zum Tragen: Hier schwenkt das Bild des kurveninneren Displays mit, sodass der Fahrer das Trailer-Ende immer perfekt im Blick behalten kann. Mit einem herkömmlichen Spiegelsystem dagegen zeigt der kurveninnere Spiegel aufgrund des Knickwinkels des Sattelzugs oft nur die Seitenwand des Trailers. „Mir ist es schon mal passiert, dass ich mit dem Trailer-Ende einen Ast touchiert habe“, gibt Patrick Hirth zu. „Mit der MirrorCam läuft man viel weniger Gefahr, mit dem Heck ein Hindernis zu streifen.“ Grundsätzlich ist das System auf Standardauflieger eingestellt, das Mitschwenken lässt sich aber auch individuell regeln. Das geschieht bei modernen Trailern automatisch, weil diese ihre Geometriedaten an das Zugfahrzeug übermitteln. Manuell kann der Fahrer den Schwenkradius im Türbedienfeld über Seitenauswahltaste und Kreuzwippe verschieben.
Ebenfalls ein Plus für die Sicherheit: Im Actros und im Arocs arbeiten MirrorCam und Abbiege-Assistent Hand in Hand. Der Abbiege-Assistent unterstützt den Fahrer in gefährlichen Abbiegesituationen nach rechts. Das System schlägt rechtzeitig optisch und akustisch Alarm, wenn im Warnbereich auf der rechten Seite des Lkw eine Kollision mit einem stehenden oder sich bewegenden Objekt droht: Erst erscheint ein gelbes Dreieck im Display der MirrorCam auf der Beifahrerseite, dann ein rotes Dreieck. Außerdem ertönen Warnsignale.
So kann der Fahrer in der Regel rechtzeitig bremsen, wenn er beim Rechtsabbiegen auf der Beifahrerseite etwas übersehen hat. Ein großer Vorteil insbesondere im unübersichtlichen Stadtverkehr mit vielen Radfahrern, Fußgängern, E-Rollern und parkenden Autos. Damit nicht genug: Der Abbiege-Assistent fungiert außerdem als Spurwechsel-Assistent für die rechte Seite und warnt den Fahrer hier mit gelbem beziehungsweise rotem Dreieck im MirrorCam-Display, wenn sich auf der rechten Spur neben ihm ein anderer Verkehrsteilnehmer befindet.
Keine Gefahr mehr durch falsch eingestellte Spiegel.
Und es gibt noch einen weiteren Sicherheitspluspunkt der MirrorCam im Vergleich zu einem herkömmlichen Spiegelsystem: Manche Fahrer sind unbeabsichtigt mit nicht optimal eingestellten Spiegeln unterwegs. So kann auf der Beifahrerseite ein gefährlicher „Toter Winkel“ entstehen, in welchem andere Verkehrsteilnehmer leicht „verschwinden“. In einigen Situationen genügt sogar nur eine geringfügige Änderung der Sitzposition, und schon hat sich der Fahrer selbst einen „Toten Winkel“ auf der Beifahrerseite geschaffen. Denn: Bei einem herkömmlichen Spiegel gilt für die Blickrichtung des Fahrers immer die Formel „Einfallswinkel gleich Ausfallswinkel“.
Anders beim Fahren mit MirrorCam und Abbiege-Assistent: Hier gibt es das Problem des „Toten Winkels“ nicht mehr, weil die Displays immer das gleiche Kamerabild wiedergeben – ganz gleich, aus welchem Winkel der Fahrer auf den Monitor schaut.
„Auch die Distanzlinien im Display der MirrorCam sind eine sinnvolle Unterstützung.“
Selbst wenn der Fahrer Pause macht, bietet die MirrorCam einen großen Vorteil: Das System lässt sich auch bei ausgeschaltetem Motor über Schalter auf der Beifahrerseite und – sofern verbaut – am Bett für zwei Minuten aktivieren. „Diese Funktion ist für uns Fahrer ein angenehmer Sicherheitsgewinn, denn so kann ich das Fahrzeugumfeld jederzeit in Augenschein nehmen, ohne dass dies von außen erkennbar ist“, findet Patrick Hirth. „Wenn sich zum Beispiel Diebe am Tank oder an der Ladung zu schaffen machen, kann ich das auch bei geschlossenem Vorhang beobachten und Alarm schlagen.“
Bleibt nachzutragen, dass allein dadurch, dass die Kameraarme in beide Richtungen klappbar sind, mögliche Beschädigungen bei möglichen Kollisionen minimiert werden. Allein schon durch die geringere Größe und die hohe Anbringung der Kameras ist das Risiko hängen zu bleiben deutlich geringer. Gegebenenfalls vorteilhaft bei einem späteren Weiterverkauf des Fahrzeugs: Lkw mit MirrorCam können an vordefinierten Anbindungspunkten im Türrohbau mit herkömmlichen Spiegeln nachgerüstet werden.
„Deutlich überlegen“.
Dirk Stranz, Entwicklungsingenieur bei der Daimler AG, antwortet auf kritische Fragen zur MirrorCam.
Können Schmutz und Regen die Bilder der MirrorCam beeinträchtigen?
Wenn es um verschmutzte Spiegel und beschlagene Scheiben geht, hat die MirrorCam viele Vorteile gegenüber herkömmlichen Rückspiegeln. Durch die Position der Kameras hoch oben am Fahrzeug, das kleine Dach über der Kameralinse, eine spezielle Beschichtung und die digitale Übertragung des Bildes auf ein Display im Fahrerhaus können Beschlagen und Schmutz dem System kaum etwas anhaben. Hilfreich an kalten und feuchten Tagen ist auch die Heizung der MirrorCam, die unterhalb von 15 Grad Celsius automatisch anspringt.
Manche Nutzer haben ein Bildrauschen bei Nacht beklagt. Ist das Kamerasystem in der Dämmerung oder nachts im Nachteil gegenüber einem herkömmlichen Spiegelsystem?
Nein. In Restlichtsituationen, also bei Dämmerlicht, ist die MirrorCam sogar im Vorteil. Die Kameras sind sehr lichtstark ausgelegt. So können die Displays ein helleres Bild zeigen, als in der Natur zu sehen ist. Der Fahrer erhält so bessere Umfeldinformationen als mit einem Spiegel. Außerdem passt sich die Helligkeit des Bildes stufenlos dem Umgebungslicht an – der Fahrer wird nicht geblendet. All das funktioniert auf offener Straße genauso wie im Tunnel. Ist es draußen allerdings vollkommen dunkel, kann auch die MirrorCam nur die durch das Fahrzeug selbst erhellten Bereiche anzeigen. Das ist bei herkömmlichen Spiegeln aber ebenso. Bei der MirrorCam hat unser Entwicklungsteam eine Abstimmung gewählt, die ein Maximum an Bildinformation bringt, was aktuell noch mit einem leichten Bildrauschen verbunden ist.
Apropos Bildqualität: Warum sind die Monitorbilder eigentlich nicht genauso scharf wie auf meinem Smartphone?
Entscheidender als die Pixeldichte waren für uns Entwickler die bisherigen Sehgewohnheiten der Fahrer: Mit der großen 15,2-Zoll-Bildschirmdiagonale entsprechen die Displays der MirrorCam in etwa der bisherigen Spiegelform. Wie gehabt können so Abstand und Tempo eines nachfolgenden Fahrzeugs gut an der Größe und Größenveränderung eingeschätzt werden. Zugegeben zeigen viele Smartphone-Displays eine irrsinnig gute Auflösung, aber das Gerät liegt in der Hand, der Abstand zum Auge ist gering, der Monitor klein, sodass man dabei eigentlich Äpfel mit Birnen vergleicht. Die Displays der MirrorCam dagegen sind deutlich weiter entfernt, und je weiter der Abstand, desto weniger Details kann das Auge unterscheiden. Eine Smartphone-ähnliche Pixelzahl ist bei der MirrorCam nach meiner Auffassung also gar nicht notwendig. Wichtig zu wissen ist außerdem: Die MirrorCam ist ein zentrales Sicherheitssystem und deshalb auf Zuverlässigkeit ausgelegt. Sie hat erfolgreich alle vorgeschriebenen Zulassungsverfahren absolviert. Ein Smartphone würde hier – Stand heute – scheitern.
„Hilfreich an kalten und feuchten Tagen ist auch die Heizung der MirrorCam, die unterhalb von 15 Grad Celsius automatisch anspringt.“
Lässt sich die Helligkeit der Displays anpassen, wenn ich das Gefühl habe, geblendet zu werden?
Ja, unterschiedliche Wahrnehmung zwischen Fahrern, die sich ein Fahrzeug teilen, wechselnde Wetterverhältnisse und Tageszeiten – es gibt mitunter gute Gründe für eine Neujustierung der Helligkeit der Displays. Das kann der Fahrer unkompliziert über das Multi-Touch-Display beziehungsweise das Multifunktionslenkrad machen. Wer will, kann rechtes und linkes Display hier sogar unterschiedlich einstellen. Es gibt unter den Menüs „Anzeige und Helligkeit“, „Displayhelligkeit“, „MirrorCam“ dafür einen virtuellen Schieberegler.
Wie kommen Brillenträger mit den Displays zurecht, und darf man eine Sonnenbrille tragen?
Die Displays der MirrorCam sind auch für Brillenträger gut ablesbar. Ein spezieller Vorteil für Brillenträger ist, dass der Blick durch die Positionierung der Displays an den A-Säulen nicht mehr so weit nach links und rechts schweifen muss, um den rückwärtigen Verkehr in Augenschein zu nehmen – der Brillenrahmen irritiert so weniger. Es kann allerdings vorkommen, dass Brillenträgern die Gewöhnung an die neuen Blickwinkel und Abstände schwerfällt. Dann sollte die erste Frage sein: Passt die Brille eigentlich noch zu den Augen? Änderungen beim Sehvermögen gehen schleichend vor sich. Deswegen werden sie von den meisten Menschen zunächst gar nicht bemerkt. Wenn dann Gewohnheiten – zum Beispiel der Blick in den Rückspiegel – angepasst werden müssen, kann man schnell zu dem Schluss kommen, dass mit dem System etwas nicht stimmt. Tatsächlich jedoch sind die Eingewöhnungsprobleme dann aber häufig auf eine nicht mehr passende Brille zurückzuführen. Ob am Schreibtisch oder am Steuer – es gilt: Die Brille muss zum Arbeitsplatz passen! Auch das Fahren mit Sonnenbrille ist in der Regel kein Problem. Allerdings hängt es stark von der Güte der Brillengläser ab, wie sehr sich der optische Eindruck verändert. Eine Sonnenbrille bringt stets Vor- und Nachteile – bei der Nutzung von Spiegeln genauso wie bei der Nutzung der MirrorCam.
Warum tun sich manche Fahrer im ersten Moment schwer, mit der MirrorCam rückwärts geradeaus zu fahren?
Ich kenne das Phänomen, das sich meist nach kurzer Eingewöhnung in Luft auflöst, wenn man das System richtig bedient. Es ist nämlich so: Für das Rangieren rückwärts bietet die MirrorCam zwei Ansichten. Standardmäßig zeigt das große Hauptdisplay den Nahbereich des Lkw, der untere Teil das weitere Umfeld. Diese Aufteilung bewährt sich vor allem, wenn der Fahrer rückwärts in einer Kurvenbewegung steuert. Setzt er das Fahrzeug allerdings nur in gerader Linie zurück, ist es oft besser, diese Funktion zu deaktivieren. Das geschieht unkompliziert über eine Taste im Türbedienfeld. Das Rangieren mit MirrorCam bietet also erweiterte Möglichkeiten im Vergleich zu den Spiegeln. Am Anfang ungewohnt ist auch, dass der Fahrer beim Zurücksetzen in gerader Linie mehr vom Fahrzeug sieht als mit herkömmlichen Spiegeln. Das liegt daran, dass die Kameras etwas weiter außen als die Spiegel sitzen. Auch das braucht etwas Eingewöhnung. Am besten, man schaut am Anfang immer abwechselnd auf beide Displays. Wenn man immer nur auf eines der Displays schaut, kann man nämlich zu Anfang den Eindruck gewinnen, schräg zu fahren, obwohl man kerzengerade unterwegs ist.
Herr Stranz, vielen Dank für das Gespräch!
Fotos: Matthias Aletsee, Jan Bergrath
Videos: Martin Schneider-Lau
Fragen: Thomas Mechelke